Nach mehr als einem Jahr seit Beginn der Covid-19-Pandemie können unsere sozialen Fähigkeiten ein wenig eingerostet sein, was vermehrt zu Unsicherheiten im Alltag und bei sozialen Ritualen führen kann. Aufgrund der Pandemie haben sich soziale Rituale verändert: Statt einem Händedruck zur Begrüßung oder einer Umarmungen ist die Frage „Bist Du schon geimpft?“ zu einer neuen Begrüßungsformel geworden. Sven Steffes-Holländer, Chefarzt der Heiligenfeld Klinik Berlin, befasst sich näher mit dem Thema und steht gerne für Interviews zur Verfügung.
Das Bedürfnis nach sozialen Kontakten ist evolutionär bedingt, ähnlich wie unser Bedürfnis nach Nahrung und Wasser. Menschen haben zumeist das tiefe Verlangen, sich einem sozialen Netzwerk anzuschließen. Wenn diese sozialen Bedürfnisse dauerhaft unbefriedigt bleiben, führt dies zu Konsequenzen in Bezug auf unsere geistige, emotionale und körperliche Gesundheit. Die Einsamkeit kann zu Affekten wie Wut, Müdigkeit, Reizbarkeit oder Traurigkeit und sozialer Unbeholfenheit führen. Diejenigen, die bereits vor der Pandemie eher introvertiert und zurückgezogener waren, wie etwa Menschen mit sozialen Ängsten und Phobien, können in einer Vermeidungsspirale verhaftet bleiben. Doch tatsächlich kann das Unwohlsein unter Menschen jede:n treffen: Wenn man aufgrund der Aufhebung der Kontaktbeschränkungen feststellt, dass soziale Ängste auftreten oder sich verschlimmern, spricht man von „Social Awkwardness“, der sozialen Unbeholfenheit, die wiederum zu tieferen psychische Problemen führen kann.
Soziale Fähigkeiten können ebenso wie ungenutzte Muskeln verkümmern
Anzeichen des neuen Phänomens „Social Awkwardness“ können sein, sich nicht mehr in der Lage zu fühlen, subtile Aspekte sozialer Situationen zu verstehen und das Bedürfnis zu haben, mit anderen zusammen zu sein. Gleichzeitig ist es mühevoll, wenn tatsächlich Zeit mit anderen verbracht wird. Die Absichten anderer Personen können falsch ausgelegt werden oder es fällt schwerer, Gestik und Mimik zu interpretieren. Menschen vermeiden plötzlich Dinge, die ihnen vor der Pandemie Spaß gemacht haben oder erfinden Ausreden, um Treffen zu vermeiden. Forschungsarbeiten mit isolierten Bevölkerungsgruppen wie Soldat:innen, Astronaut:innen oder Gefangenen zeigen, dass soziale Fähigkeiten ebenso wie ungenutzte Muskeln verkümmern können. Wenn Menschen längere Zeit von anderen Personen isoliert sind, fühlen Sie sich oft unbehaglich und sozial ängstlich. Dies ist nicht automatisch eine psychische Störung, vielmehr handelt es sich bei der sozialen Unbeholfenheit um eine kollektive Erfahrung, die nicht nur Menschen mit sozialen Ängsten betrifft.
Wie Sie mit „Social Awkwardness“ umgehen können:
- Wenn Sie schwere Angstzustände erleben, die Ihr tägliches Leben stark beeinträchtigen, sollten Sie sich an Ihre Ärztin oder Ihren Arzt wenden, um professionelle Hilfe zu bekommen.
- Leichtere soziale Ängste können verbessert werden, indem Sie sich allmählich den Situationen stellen (exponieren), die Ihnen Angst machen, bis Sie sich wieder daran gewöhnt (habituiert) haben.
- Üben Sie Bewältigungsstrategien für schwierige soziale Situationen wie Atemübungen oder das Wiederholen positiver Affirmationen.
- Meditation und Achtsamkeit können helfen, wenn Sie feststellen, dass Ihr Problem hauptsächlich aus Sorgen besteht, die Sie mitreißen und es schwerer machen, an etwas Positives zu denken.
- Tagebuchschreiben kann eine gute Möglichkeit sein, die zugrunde liegenden Emotionen oder Auslöser im Laufe des Tages zu erfassen. Schreiben Sie jeden Tag darüber, wie Sie sich gefühlt haben und wie es gelaufen ist. Suchen Sie nach Mustern in Ihren Gedanken und Gefühlen und versuchen Sie, Auslöser zu identifizieren, durch die Sie sich schlechter fühlen, damit Sie sich darauf vorbereiten können, sie das nächste Mal zu bewältigen, wenn Sie ihnen begegnen.
Wenn Menschen sich aufgrund von „Social Distancing“ und Isolation sozial überfordert fühlen, ist es wichtig zu erkennen, dass Sie nicht allein sind. Tatsächlich gab es noch nie in der Geschichte einen besseren Zeitpunkt, um an der Verbesserung der eigenen sozialen Fähigkeiten zu arbeiten – so ziemlich jede:r erlebt aktuell das Gleiche! Soziale Fertigkeiten lassen sich gut trainieren, auch mit Unterstützung von Psychotherapie.